„Die Gewalt fängt nicht an, wenn Kranke getötet werden. Sie fängt an, wenn einer sagt: „Du bist krank: Du musst tun, was ich sage!“
Aus: Die Gewalt von Erich Fried (in: Um Klarheit, 1985)
Inhaltsverzeichnis:
4. Formen der Gewalt - Definition, Verständnis, Beispiele
5. Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren
6. Anzeichen von Gewaltvorfällen
7.1 Mitarbeiterauswahl
7.2 Employe Assistance Programm (EAP)
7.3 Fortbildung
7.4 Gestaltung der Arbeitsbedingungen
7.5 Gestaltung der Lebensbedingungen
7.6 Vermeidung von FEM
7.7 Fallgespräche
7.8 Wahrnehmung von Mitarbeitenden, Bewohnenden und Angehörigen
7.9 Stärkung der Mitarbeitenden, Bewohnenden und Angehörigen
7.10 Wohngruppenbelegung
7.11 Beschwerdemanagement
8.1 Interventionsschema
8.2 Nachsorge
8.3 Hinweise zum Gesprächseinstieg
8.4 Hinweise zur Dokumentation
8.5 Hinweise zur Deeskalation
8.6 Externe Hilfestellen/Interne Ansprechpartner*innen
1. Einleitung
Im Eduard-Michelis-Haus tragen wir die Verantwortung für 120 Bewohnende und 11 Gäste in unserer Kurzzeitpflege. Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, den uns anvertrauten Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt würdevoll mit einer lebensbejahenden Grundhaltung zu begleiten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe tragen rund 180 Beschäftigte aus allen Fachbereich bei.
Wo viele Menschen sind, kann es immer wieder zu Spannungen, Konflikten und Herausforderungen kommen. Eine offene und kollegiale Unternehmenskultur reicht nicht aus, um Gewalt im institutionellen Rahmen zu vermeiden. Eine potentielle Gefahr von Gewalthandlungen besteht immer, denn die Ursachen sind vielschichtig und so gilt es, Achtsam zu sein und Präventionsmaßnahmen aktiv zu leben.
Wir haben die Pflicht, Gefahren für Leib, Leben und Freiheit von Bewohnenden abzuwehren und sie zu schützen (Garantenpflicht). Das vorliegende Konzept bildet das Gerüst unserer Haltung und unserem Handeln im Umgang mit Gewalt. Es wurde unter der Beteiligung von Mitarbeitenden unter Einbeziehung aktueller Fallbeispiele und dessen Umgang hinsichtlich der Risiken und Präventionsmaßnahmen erstellt.
2. Haltung
Unsere Haus- und Teamregeln sowie unsere Führungsgrundsätze bilden das Gerüst unseres Handels. Diese wurden seitens der Mitarbeitenden im Jahr 2020 gemeinsam erstellt und verabschiedet. Sie schreiben fest, was uns im Miteinander und im Umgang mit unseren Bewohnenden wichtig ist.
- Wir akzeptieren, den Wunsch des Bewohnenden
- Wir helfen Angehörigen und Bewohnenden weiter
- Wir Siezen unsere Bewohnenden und sprechen Sie respektvoll an
- Wir wahren die Privatsphäre
- Wir wahren Nähe und Distanz
- Wir sind Diskret bei der Grundpflege und erklären unseren Bewohnenden, was wir tun
- Wir achten aufeinander und helfen uns gegenseitig ohne Aufforderung
- Wir kommunizieren freundlich und respektvoll miteinander
- Wir sprechen Regelverstöße sofort an
Die Führung des Hauses sind allen Mitarbeitenden, Bewohnenden und Angehörigen offen zugewandt. Die festgeschriebenen Grundsätze sind für jeden leitenden Mitarbeitenden verbindlich:
- Wir schätzen unsere Mitarbeitenden wert und geben zeitnah Lob und Feedback
- Wir vermitteln die Visionen und Werte unserer Einrichtung
- Wir beziehen unsere Mitarbeitende ein
- Wir leben eine offene Fehlerkultur
- Wir kommunizieren offen und transparent
- Wir lösen Konflikte; sie müssen offen angegangen werden
- Wir betrachten Kontrolle als Chance der gezielten Rückmeldung
3. Ziele
- Sensibilisierung aller, die im Dienste unser Bewohnenden stehen: Wann beginnt Gewalt, was sind mögliche Auslöser?
- Schaffen einer gemeinsamen Achtsamkeitskultur; Warnsignale wahr- und ernstnehmen
- Offenheit und Transparenz schaffen: Weder der Verdacht, eine mögliche Gefahr oder der tatsächliche Gewaltvorfall dürfen verschwiegen werden. Gewalt ist kein Tabuthema
- Bewusstseinsschaffung, Weiterentwicklung und das Leben unserer Präventionsmaßnahmen
- Handlungssicherheit für alle, die im Dienste unserer Bewohnenden stehen, schaffen
- Unser Haus als einen sicheren Ort für Bewohnende und Mitarbeitende wahren
4. Formen der Gewalt – Definition, Verständnis, Beispiele:
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gewalt als tatsächlich oder angedroht absichtlichen Gebrauch von physischer oder psychischer Macht, wobei der Gebrauch gegen die eigene Person oder eine andere Person/Gruppe/Gemeinschaft gerichtet ist. Folgen dieser Gewalt seien laut WHO tatsächliche oder mit hoher Wahrscheinlichkeit Verletzungen, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen, Deprivation (Liebesentzug, Mangel, Verlust) oder der Tod.[1]
Als Gewalt in der Pflege werden in erster Linie alle Handlungen bezeichnet, bei denen eine Person gegenüber einer anderen im pflegerischen Kontext Willkür oder Macht ausübt. Gewaltanwendungen gehen jedoch nicht ausschließlich von Mitarbeitenden gegenüber Bewohnenden aus; sie können von unterschiedlichen Personen und Richtungen ausgehen:
- Bewohnende gegenüber Bewohnende
- Bewohnende gegenüber Mitarbeitenden
- Angehörige oder Dritte (z.B. Therapeut*in; rechtliche Betreuung, …) gegenüber Bewohnenden oder Mitarbeitenden
- Bewohnende gegenüber Angehörige oder Dritte
- Kolleg*innen gegenüber Kolleg*innen
- Führungskräfte gegenüber Mitarbeitende
- Mitarbeitende gegenüber Führungskräfte
Geht die Gewalt in der Pflege von einer einzelnen Person aus, spricht man von personaler Gewalt. Wird die Gewalt von institutionellen oder gesellschaftlichen Strukturen bestimmt, handelt es sich um strukturelle Gewalt.
Sie kann aktiv erfolgen (z. B. Misshandlung) oder passiv (z. B. Vernachlässigung).
Nicht jeder Gewaltakt hat per se die Absicht, jemanden Schaden zu zufügen. Fehlendes Wissen über mögliche Handlungsalternativen oder Krankheitsbilder/-verläufe können der Grund sein.
Das Gewalterleben ist individuell. Wir üben jedoch auch Gewalt aus, wenn der Bewohnende es nicht als solche empfinden mag, indem wir beispielsweise erforderliche Hilfsmittel außerhalb seiner Reichweite stellen.
Im nachfolgenden werden die Formen der Gewalt und beispielhafte Handlungen aufgezeigt.[2]
Formen der Gewalt |
Beispielhafte Handlungen |
Physische Gewalt |
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Psychische Gewalt |
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Sexualisierte Gewalt |
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Vernachlässigung |
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Freiheitsentziehung/-beschränkung |
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Strukturelle Gewalt |
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Finanzielle Ausbeutung |
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Mobbing/Bossing |
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Kulturelle Gewalt |
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5. Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren
Ursachen von Gewalt in der Pflege sind sehr vielfältig, ergeben sich jedoch selten aus dem Nichts heraus. Meist wird der Ärger über eine längere Zeit angesammelt, bevor er sich plötzlich entlädt. Deshalb ist es wichtig, die Gesamtsituation zu erfassen, bevor ein Urteil gefällt wird. Gewalt kann von allen Seiten ausgehen – von dem Mitarbeitenden und dem Bewohnenden aber auch von Angehörigen.
Mögliche Ursachen:
- Der Bewohnende legt ein besonders herausforderndes Verhalten an den Tag (z. B. bei einer demenziellen Veränderung), was bei dem Mitarbeitenden zu Stress führt, der wiederum eine affektive Handlung auslösen kann
- Permanente Überlastung (z. B. durch Personalmangel, Zeitdruck, hohe Verantwortung), die nicht verarbeitet wird, kann zum Verlust der Selbstkontrolle führen
- Dem Mitarbeitenden fehlen die notwendigen Kompetenzen, um die Bedürfnisse und Äußerungen des Bewohnenden richtig einzuschätzen um daraufhin professionell zu reagieren
- Der Mitarbeitende leidet unter einer psychischen Erkrankung oder anderen persönlichen Belastungen, die seine fachliche Eignung, Stressresistenz, etc. beeinträchtigt
- Ein angespanntes Betriebsklima, destruktive Führungskultur aber auch äußere Einflüsse wie Bau- oder Straßenlärm
- Gewalt, die durch einen Bewohnenden ausgeht, kann krankheitsbedingte kognitive Beeinträchtigungen als Ursache haben, wie beispielsweise Veränderungen im Gehirn oder negative Effekte auf die Persönlichkeit durch Medikamente. Fehlende Teilhabe, Scham, eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, Verlust der Autonomie aber auch Schmerzen können ebenfalls zu einem gewalttätigen Verhalten führen
- Angehörige können durch gutgemeinte Absichten und fehlendes Wissen, Gewalt ausüben. Dies kann in verschieden Situationen der Fall sein wie beispielsweise bei der Unterstützung der Nahrungsaufnahme, indem sie das Essen/Getränk zum fest geschlossenen Mund führen um die Aufnahme zu erwirken. Ebenfalls kann das Drängen zur Mobilisation und Teilhabe eine Form der Gewaltausübung sein, wenn sie nicht den Wünschen und aktuellen Bedürfnissen/Ressourcen des Bewohnenden entsprechen.
Die Risikofaktoren sind durch eine wechselnde und sich verändernde Bewohner- und Mitarbeiterschaft immer wieder neu zu betrachten und zu reflektieren. Ein wesentlicher Schritt zum Umgang mit Gewalt ist, sensibel und achtsam für mögliche Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren zu sein und eine systematische Prävention umzusetzen.[3]
6. Anzeichen von Gewaltvorfällen
Gewalt findet oftmals im Verborgenen statt und kann von allen Personen ausgehen, die mit dem Betroffenen in Kontakt treten. Hinzu kommt, dass Betroffene aus Scham oder Angst schweigen oder aufgrund ihrer physischen Verfassung nicht mehr dazu in der Lage sind, sich jemanden anzuvertrauen. Es ist deshalb bedeutungsvoll, aufmerksam zu sein, Anzeichen ernst zu nehmen und einem Verdacht sensibel nachzugehen.
Mögliche Warnhinweise sind:[4]
Physische Signale |
Psychische und soziale Signale |
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7. Prävention
Im Eduard-Michelis-Haus bestehen verschiedene schützende Strukturen, die im Folgenden aufgezeigt werden. Die Präventionsmaßnahmen beziehen sich auf den Ebenen der Bewohnenden, Mitarbeitenden und der Unternehmensstruktur.
7.1 Mitarbeiterauswahl
Neben der Fachlichkeit thematisieren wir die Prävention gegen Gewalt bereits in den Vorstellungsgesprächen sowie in Team- und Mitarbeitergesprächen:
- Wertschätzende Grundhaltung – Wie begegnen Sie den Menschen?
- Kollegialität – Was verstehen Sie unter Teamarbeit?
- Professionalität – Wie gehen Sie mit herausfordernden Verhalten um? Wie wahren Sie Nähe und Distanz?
- Fürsorge – Was tun Sie für sich und andere?
Zur Einstellung ist ein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen, welches alle 5 Jahre seitens der Personalabteilung neu eingefordert wird.
Alle Mitarbeitenden erhalten zur Einstellung unsere Haus- und Teamregeln sowie unsere Führungsgrundsätze. Die Hausregeln sind eingerahmt vor bzw. die Teamregeln in jedem Dienstzimmer bzw. in den Arbeitsräumen der Küche und Wäscherei. Sie sind verbindlich für alle Mitarbeitende. Die Führungsgrundsätze sind verbindlich für alle Mitarbeitende in Leitungspositionen.
Im Einarbeitungsprozess werden die Haus- und Teamregeln sowie der Umgang mit Nähe und Distanz thematisiert und reflektiert.
7.2 Employee Assistance Program (EAP)
Beim EAP handelt es sich um ein Mitarbeitendenunterstützungsprogramm in Form von telefonischer und/oder digitaler Beratung bei gesundheitlichen, beruflichen und persönlichen Fragestellungen. Das Angebot ist für alle Beschäftigte und deren Angehörige im Eduard-Michelis-Haus kostenfrei und steht täglich 24 Stunden zur Verfügung. Das Angebot ist zu 100% anonym und berät zu verschiedenen Lebensthemen wie Stress bis Überforderung, Recht und Finanzen, kritische Lebenslagen aber auch zu Kinderbetreuung und Therapieplatzsuche. Das Eduard-Michelis-Haus arbeitet hier mit der Firma INSITE INTERVENTIONS zusammen. Die Informationen zu dem Programm erhalten Mitarbeitende u. a. über einen Flyer zur Einstellung, über die MAV oder Führungskräfte in anlassbezogenen Gesprächen.
7.3 Fortbildung
Für Mitarbeitende aus alles Fachbereichen gelten jährlich folgende Pflichtfortbildungen zum Thema Gewalt und Gewaltprävention.
- Prävention sexualisierte Gewalt (nach Erstschulung alle 5 Jahre) in Präsenz
- Gewaltprävention in der Pflege online und in Präsenz
- Charta der Rechte Hilfe- und Pflegebedürftiger Menschen online
- Umgang mit Stress online
- Freiheitsentziehende Maßnahmen online und in Präsenz
- Gesundes arbeiten in der Pflege online und in Präsenz
7.4 Gestaltung der Arbeitsbedingungen
Wir legen Wert auf eine familienfreundliche, offene und kollegiale Arbeitsatmosphäre und setzen dafür verschiedene Instrumente ein, die stetig weiterentwickelt, ausgebaut und wenn erforderlich individuell angepasst werden:
- Arbeitszeiten für Mütter oder Väter (Elterndienste)
- Verlässliche Dienst- und Urlaubspläne sowie klare Notfallregelungen
- Flache Hierarchien: Fach- und Einrichtungsleitung sind präsent und offen für Anliegen; sie unterstützen nicht nur in Notfällen
- Monatliche Teamgespräche mit den jew. Fachbereichsleitungen
- Aus der Mitarbeiterschaft entstandene und festgeschriebene und gelebte Team- und Hausregeln sowie Führungsgrundsätze
- Finanzielle Unterstützung in finanziellen Schieflagen durch ein zinsfreies Darlehen
- Klare Aufgabenstellung durch Aufgaben- und Stellenbeschreibungen
- Verlässliche Bereitstellung von Ressourcen (Material, Hilfsmittel, Personal, Zeitfenster für Organisatorisches und Weiterbildung)
- Stetige Optimierung der Aufbau- und Ablauforganisation unter der Beteiligung der Mitarbeitenden
- Transparente Kommunikation (z.B. wöchentliches Schichtleitungstreffen mit Fachbereichsleitung zum Austausch und zur Reflexion, Mitarbeitervollversammlungen, …)
- Regelmäßige Mitarbeitergespräche (Jahres- und anlassbezogene Gespräche, „Rückkehrgespräch“ nach Krankheit, BEM-Gespräche)
- Mitarbeitende können auf Wunsch den Wohnbereich wechseln, insbesondere in Bezug auf unseren Gerontopsychiatrischen Wohnbereich
- Bereitstellung eines Pausenraums mit Esstisch, Sofa, TV und Terrasse sowie einer Raucherhütte mit Sitzbereich
- Bereitstellung von Fahrrädern und E-Bikes
- Bevorzugte Behandlung bei der Unterbringung pflegebedürftiger Angehöriger
- Mitarbeiterevents (Frühstücksbuffet, Adventfeier, Eis-/Cocktailwagen im Sommer, …)
7.5 Gestaltung der Lebensbedingungen
In unserem Soziale Betreuung und Teilhabekonzept festgeschrieben, bieten wir unseren Bewohnenden einen abwechslungsreichen Alltag in Form von Einzel- und Gemeinschaftsangeboten. Wir bieten eine verlässliche Tages- und Wochenstruktur, welche Orientierung und Sicherheit bietet. Wir unterstützen bei der Orientierung zu Ort und Zeit durch beispielsweise große Kalender in den Wohngruppen, Licht und jahreszeitlicher Dekoration.
Wir fördern soziale Interaktionen. Unsere räumlichen Gegebenheiten bieten Orte der Begegnung: Veranstaltungen und Treffen finden in der Cafetria, im Sinnesgarten, im großen Saal oder in den Wohnküchen statt. Wir verfügen ausschließlich über Einzelzimmer, die nach den Wünschen des Bewohnenden eingerichtet sind und ein Ort des Rückzuges sind.
Wir berücksichtigen individuelle Pflegerituale und -zeiten und passen nach Möglichkeiten die Abläufe nach den Bedürfnissen des Bewohnenden an. Mögliche Störungen des Ablaufes werden dem Bewohnenden offen kommuniziert.
Wir arbeiten mit Angehörigen partnerschaftlich zusammen und informieren sie über den Pflegeprozess und Veränderungen.
Wir vermeiden zu viele Reize wie beispielsweise Dauerberieselung mit Fernsehen und führen die Pflege diskret, ruhig und geräuscharm durch. Wir sind Gäste in den Wohnküchen der Bewohnende und verhalten uns entsprechend dieser Rolle.
7.6 Vermeidung von FEM
Jede freiheitsentziehende Maßnahme schränkt die Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen maßgeblich ein. Sie können zu Unruhe, Depression und Aggression oder zu physischen Verletzungen führen. Vorrangig sind deshalb Alternativen in Betracht zu ziehen und umzusetzen. Unsere Einrichtung ist ausschließlich mit Niederflurbetten ausgestattet. Wir halten Sturzmatten, Sturzsensoren, Bewegungslichter, verstellbare Pflegerollstühle und geteilte Bettgitter bereit. Sitzgymnastik, Kraft- und Balancetraining sowie Physiotherapie unterstützen den Erhalt der Beweglichkeit und Kraft. Wir Verweisen hier auf unser Konzept FeM.
7.7 Fallgespräche
Zeigen Bewohnende herausforderndes Verhalten, werden zeitnah anlassbezogene Fallgespräche im Beisein der Fachleitungen und Einrichtungsleitung geführt. Im kollegialen Austausch werden nach Ursachen und möglichen Handlungsschritten gesucht. Ziele dabei sind die Ursachen zu erkennen und sowohl den Bewohnenden als auch die Mitarbeitende durch geeignete Maßnahmen frühzeitig zu entlasten. In den Fallgesprächen wird der Bewohnende ganzheitlich betrachtet (Biografie, pflegerischer und betreuerischer Bedarf, informelle/formelle Beziehungen, individuelle Bedürfnisse). Je nach Situation werden Angehörige dazu eingeladen.
7.8 Wahrnehmung von Mitarbeitenden, Bewohnenden und Angehörigen
Unsere Haltung ist, dass Leitung nicht vom Schreibtisch aus gelebt wird. Dass bedeutet, dass die Leitungskräfte Mitarbeitende, Angehörige und Bewohnende im alltäglichen Arbeitsfluss wahrnehmen. Im täglichen „Jour-Fix“, an denen alle Fachbereichsleitungen und Einrichtungsleitung teilnehmen, werden Informationen und Wahrnehmungen ausgetauscht. Darunter zählen u. a. Veränderungen der Bewohnenden und mögliche Auswirkung auf das System, mitgeteilte Sorgen/Ärgernisse von Bewohnenden und/oder Mitarbeitenden oder auffällige Verhaltensweisen von Mitarbeitenden. Im kollegialen und multiprofessionellem Austausch werden gemeinsam nach Lösungen gesucht. Weitere Handlungsschritte werden eng abgestimmt.
7.9 Stärkung der Mitarbeitenden, Angehörigen, Bewohnenden
Unsere Haltung ist, dass die Türen für die Belange von Mitarbeitenden, Angehörigen und Bewohnenden offen sind. Beschwerden, Sorgen und Nöte haben im Arbeitsprozess Vorrang. Wir nehmen uns situativ die Zeit, die Anliegen zu besprechen und partnerschaftlich nach konstruktiven Lösungen zu suchen. Ebenso gehen wir proaktiv auf die Menschen zu und suchen zeitnah das Gespräch, wenn wir Belastungen wahrnehmen. Die Gespräche dienen der Entlastung (z. B. Gezieltes Coaching) und der Reflexion (z. B. Selbst- vs. Fremdwahrnehmung).
7.10 Wohngruppenbelegung
Die Leitungskräfte kennen die Bewohnenden und ihre Bedarfe. Wir versuchen nach Möglichkeit, eine stimmige Wohngruppenbelegung sicherzustellen. Vor Aufnahme auf die Warteliste laden wir Angehörige und, wenn möglich, den potentiellen Bewohnenden zu einem persönlichen Infogespräch durch die Leitung des Sozialen Dienstes ein. Im Infogespräch werden erste Stammdaten aufgenommen und Vorlieben erfragt (z. B. Hobbies/Interessen aber auch biographische Elemente wie Beruf). Zudem werden Informationen zum Einzug gegeben und ein Hausrundgang durchgeführt.
7.11 Beschwerdemanagement
Wir halten ein Beschwerdemanagement für interne und externe Beschwerden vor. Jede Form der Beschwerde (schriftlich, mündlich) ist zulässig und wird von der Einrichtungsleitung bearbeitet. Das Recht auf Beratung und Beschwerde ist im Heimvertrag festgeschrieben. Interne (Einrichtungsleitung, Bewohnerbeirat) und externe Ansprechpartner (WTG-Behörde, Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, u.a.) werden mit Kontaktdaten in diesem aufgeführt. Des Weiteren ist der Kontakt der zuständigen WTG-Behörde am Eingang ausgehängt.
Bewohnende sowie Gäste in unserer Kurzzeitpflege werden überdies in unserer Willkommensbroschüre (siehe Punkt 7.4 der Broschüre) über die Möglichkeit, Anregungen und Wünsche mittels Formular in einen der zwei vorgesehenen Briefkästen zu äußern.
8. Intervention
Trotz aller Präventionsmaßnahmen kann es zu Gewalthandlungen kommen. Unsere Beobachtungen sind zu differenzieren: Handelt es sich um einen vagen, konkreten oder erhärteten Verdacht?[5]
Das Grundprinzip ist in allen Fällen „Hinsehen statt Wegsehen, Dableiben statt Weggehen.“ Jede Person, die Opfer einer Gewalthandlung ist, gilt es zu schützen und steht im Mittelpunkt der Sorge. Es muss alles unterbleiben, was diesem schaden und eine weitere Traumatisierung auslösen könnte. In Verdachtsfällen ist eine vertrauliche und diskrete Vorgehensweise von besonderer Wichtigkeit - Solange nichts bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung.
Körperliche und Psychische Gewalt sind nach dem Strafgesetzbuch strafbar; Täter können mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe geahndet werden (§174 Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, §225 Misshandlung von Schutzbefohlenen StGB).
Ebenfalls stellt Mobbing (§185 Beleidigungen StGB) kein Kavaliersdelikt dar und kann zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen wie zur Kündigung führen. Es besteht die Gefahr, dass Mobbingfälle aus unterschiedlichen Gründen nicht gemeldet werden: Aus Angst als „Petze“ dazustehen und vor den Folgen, die eine Meldung mit sich bringt oder aus Nichtwissen, an wen man sich wenden kann. Im Eduard-Michelis-Haus darf es keinen Platz für Diskriminierung, Mobbing und anderen Formen der Gewalt geben. Wir schützen Opfer und meldende Personen, arbeiten Gewaltvorfälle gemeinschaftlich auf. Die Verantwortung dafür tragen die Fachbereichsleitungen im Mittun aller Mitarbeitenden.
Das nachfolgende Interventionsschema gibt eine Übersicht, wie die Handlungs- und Informationskette im Fall einer Gewaltbeobachtung ist. Im Weiteren werden Maßnahmen zur Nachsorge, Handlungshinweise zur Gesprächsführung, Dokumentation und Deeskalation sowie externe Beratungsangebote aufgeführt.
8.1 Interventionsschema (Link)
8.2 Nachsorge und Aufarbeitung
Jeder Vorfall von Gewalt ist gemeinsam aufzuarbeiten um psychische Belastungen zu reduzieren. Überdies gilt es, den Vorfall zu reflektieren und eine allgemeine Achtsamkeit hervorzurufen. Für die Aufarbeitung stellen wir verschiedene Maßnahmen sicher:
- Fallbesprechungen und Hinzuziehen von Angehörigen
- Kollegiale Beratung
- Mitarbeitergespräche, Teamgespräche, Mitarbeitervollversammlung
- Bewohnergespräche, Wohngruppengespräche, Bewohnervollversammlung
- Seelsorge für Mitarbeitende und Bewohnende
- INSITE INTERVENTIONS (für Mitarbeitende und deren Angehörige)
- Beratung und Unterstützung bei der Erstellung von Strafanzeigen und Schadensmeldungen sowie Information zu externen Beratungsstellen (siehe Punkt 8.6)
8.3 Hinweise zum Gesprächseinstieg
Besteht ein vager Verdacht, dass ein Bewohnender Opfer einer Gewalthandlung war/ist, gilt es zunächst, das Gespräch mit ihm zu suchen. Der Einstieg fällt nicht immer leicht, sodass im Folgenden Anregungen zum Vorgehen und zum Gesprächseinstieg aufgezeigt werden:
Wie?
- Sprechen Sie den Bewohnenden nicht im Beisein einer Begleitperson auf das Thema an, es könnte die Täterin/ der Täter sein
- Sorgen Sie für eine ungestörte Gesprächsatmosphäre
- Hören Sie vorurteilsfrei zu
- Unterstützen Sie das Gespräch, indem Sie bspw. zustimmend nicken oder durch Bemerkungen wie „Mmh“ oder „Verstehe“
- Machen Sie deutlich, dass Gewalt eine Verletzung der Menschenrechte bzw. einen Straftatbestand darstellt und der Bewohnende nicht verantwortlich dafür ist.
- Respektieren Sie, wenn der Bewohnende nicht bzw. noch nicht über die erlebte Gewalt sprechen kann.
Einstieg in ein Gespräch – Beispiele
- Ich kann mich irren, aber diese Verletzung sieht nicht nach einem Sturz [...] aus.
- Ich habe den Eindruck, dass [...].
- In meiner Wahrnehmung haben Sie sich in den letzten Monaten verändert, Sie wirken [...].
- Gewalt als Ursache für gesundheitliche Störungen ist mir nicht fremd.
- Über Ihr Gewalterleben können Sie – wenn Sie möchten – mit mir vertrauensvoll sprechen. Ich habe Erfahrung mit Problemen durch Gewalt, ich kann Sie – wenn Sie möchten – beraten und auch weitere Informations- und Unterstützungsstellen benennen.[1]
8.4 Hinweise zur Dokumentation
Die Dokumentation zu Beobachtungen, Gesprächen und Maßnahmen sind fortlaufend und lückenlos zu führen. Sie sichert die Weitergabe wichtiger Informationen an Kolleg*innen. Zudem ist es wichtig, alle relevanten Daten für eine etwaige juristische Aufarbeitung der Geschehnisse zu einem späteren Zeitpunkt vorzuhalten.
Die Dokumentation ist sachlich (wertfrei) und genau zu führen:
- Was bzw. welche Handlungen haben Sie beobachtet?
- Wann haben Sie die Beobachtung gemacht?
- Welche Maßnahmen haben Sie zuerst ergriffen (Gespräch mit Betroffenem, Information an Leitung, Angehörige, etc)?
- Welche Maßnahmen wurden im Fallgespräch eingeleitet (Präventionsmaßnahmen)?
- Wann haben Sie die Maßnahmen evaluiert? Gibt es ggfls. eine erforderliche Anpassung der Maßnahmen?
Wunden und Schmerzen sind im Wund- bzw. Schmerzprotokoll festzuhalten.
Das Fotografieren der Verletzung sind wichtige Beweismittel, sofern der Bewohnende damit einverstanden ist.
Eingeleitete Fallgespräche werden durch die Fachbereichsleitungen dokumentiert. Die daraus abgeleiteten Maßnahmen werden von der zuständigen Pflegefachkraft im Dokumentationssystem festgeschrieben.
Sind Mitarbeitende durch die Handlung eines Bewohnenden Opfer von körperlicher oder seelischer Gewalt, ist der Vorfall im Verbandsbuch festzuhalten. Die Übergriffe gelten als Arbeitsunfall. Resultiert aus dem Vorfall eine Arbeitsunfähigkeit, die 3 Tage überschreitet, erfolgt eine Meldung seitens der Personalverwaltung an die Berufsgenossenschaft. Mit dem Vermerk „psychische Verletzung“ besteht die Möglichkeit über die BGW Therapiesitzungen genehmigt zu bekommen.
Dokumentation durch Leitung
Jede Maßnahme, die die Freiheitsbeschränkung des Bewohnenden betrifft, ist grundsätzlich immer das letzte Mittel. Ist diese jedoch erforderlich, so wird diese Maßnahme über Pfad.WTG als auch der zuständigen Monitoring- und Beschwerdestelle NRW gemeldet. Die Verantwortung der Dokumentation obliegt der Einrichtungsleitung bzw. stellv. Einrichtungsleitung.
8.5 Hinweise zur Deeskalation
Deeskalierendes Arbeiten richtet sich gegen Aggression und Gewalt. Es versucht die gefährlichen Situationen zu deuten, zu verstehen, vorzubeugen und zu verändern. Grundsätzlich gilt, Warnsignale bewusst wahrzunehmen, diese im Gespräch anzusprechen und sich kollegiale oder externe Unterstützung für mögliche Lösungsstrategien zu suchen. Wird Gewalt akut erlebt oder beobachtet sind folgende Regeln zur Deeskalation berücksichtigen:
Im Fall Bewohnender gegenüber Mitarbeitenden
- Ruhe bewahren
- Den Bewohnenden ernst nehmen. Seine Gefühle und Bedürfnisse anerkennen
- Den Bewohnenden nicht in die Enge treiben, sondern ihm einen Rückzugsort bieten
- Keine bedrohlichen Gesten benutzen, sondern defensive Körpersprache
- Den Bewohnenden mit Namen ansprechen und aus ihrer Erregung holen: „Hallo, Frau Müller“ oder „Stopp! Herr Maier!“
- Ablenken, in ein anderes Zimmer oder in den Garten bringen
Im Fall Mitarbeitender gegenüber Bewohnenden
- Ruhe bewahren
- Holen Sie sich weitere Unterstützer*innen, die in ihrer Nähe sind (Kolleg*innen, Leitung)
- Kolleg*in auffordern, die Gewalt sofort zu unterlassen – klare, verbale Anweisungen; Trennen der Konfliktparteien[2]
8.6 Externe Hilfestellen / Interne Ansprechpartner*innen
Frauenberatungsstelle Gladbeck e.V.
Grabenstraße 13
45964 Gladbeck
Tel.: 02043 – 66699
www.frauenberatungsstelle-gladbeck.de
Frauenberatungsstelle Frauenzentrum Courage e.V.
Essener Straße 13
46236 Bottrop
Tel.: 02041 – 63593
www.frauenzentrumcourage.de
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
Hilfetelefon Gewalt an Männern
Tel.: 0800 - 1239900
Mail: beratung@maennerhilfetelefon.de
www.maennerhilfetelefon.de
Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“
Tel.: 0800 22 55 530
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/hilfe-telefon
Beratung auch in Verdachtsfällen!
INSITE INTERVENTIONS (Für Mitarbeitende und Angehörige)
Kontakt über Flyer aus der Personalabteilung/durch Leitung
Beratungsfelder: Recht, Psychische Belastung, kritische Lebenslagen, u. a.
WEISSER RING e. V.
Mail: info@weisser-ring.de
www.weisser-ring.de
Beratung/Hilfe für Opfer von Gewalt /Bundesweites kostenloses Telefonangebot
WTG-Behörde Kreis Recklinghausen
Kurt-Schumacher-Allee 1
45657 Recklinghausen
Tel.: 02361 53-2048
Mail: wtg-gladbeck@kreis-re.de
www.kreis-re.de
Unabhängige Meldestelle von Beschwerden für Angehörige und Bewohnende sowie
Melde- und Beratungsstelle von FEM für Einrichtungen
Monitoring- und Beschwerdestelle NRW
Claudia Middendorf
E-Mail: gewaltschutz@lbbp.nrw.de
Tel.: 0211 / 855 4499
https://www.lbbp.nrw.de/monitoring-und-beschwerdestelle
Unabhängige Meldestelle von FEM für Einrichtungen und Betroffene
Interne Ansprechpartner*innen
Birgit Waldhoff (Präventionsbeauftragte)
Br. Jörg Recktenwald (Seelsorge)
9. Literaturverzeichnis
Befund Gewalt: https://www.befund-gewalt.de/beispiele-fuer-einen-gespraechsbeginn.html, 26.03.2024
Caritas Regensburg (Hrsg.): https://www.caritas-regensburg.de/cms/contents/caritas-regensburg.d/medien/dokumente/broschuere-gewaltsch/ca_brosch_gewaltschutzkonzept_internet.pdf., 26.03.2024
Forum Verlag (Hrsg.): https://www.forum-verlag.com/blog-gp/gewalt-in-der-pflege, 22.03.2024
Landeshauptstadt München/Sozialreferat, Amt für Soziale Sicherung (Hrsg.): https://www.muenchen.info/soz/pub/pdf/647_leitfaden_zur_gewaltpraevention_in_einrichteinri_in_der_langzeitpflege.pdf, 26.03.2024
ProDeMa Institut für Professionelles Deeskalationsmanagement: https://prodema-online.de/deeskalation/deeskalationstraining/12-grundregeln-der-deeskalation, 09.04.2024
Spannungsfeld Pflege – Herausforderungen in klinischen und außerklinischen Settings (Schaupp, Walter): https://d-nb.info/1220163597/34#page=43, S. 43 ff., 11.03.2024
Strafgesetzbuch: https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/, 02.04.2024
WHO: Weltgesundheitsorganisation (2003): Weltbericht Gewalt und Gesundheit
www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf (letzter Abruf am 23.08.2023), 11.03.2024
ZQP (Zentrum für Qualität in der Pflege): https://www.zqp.de/thema/schutz-gewalt/, 11.03.2024
[1] https://www.befund-gewalt.de/beispiele-fuer-einen-gespraechsbeginn.html
[2] https://prodema-online.de/deeskalation/deeskalationstraining/12-grundregeln-der-deeskalation
[1]Vgl. Weltgesundheitsorganisation (2003): Weltbericht Gewalt und Gesundheit
www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf (letzter Abruf am 23.08.2023)
[2] Vgl. https://www.forum-verlag.com/blog-gp/gewalt-in-der-pflege
[3]Vgl.https://www.muenchen.info/soz/pub/pdf/647_leitfaden_zur_gewaltpraevention_in_einrichtungen_in_der_langzeitpflege.pdf
[4] Vgl. https://www.zqp.de/thema/schutz-gewalt/
[5] Vgl. https://www.caritas-regensburg.de/cms/contents/caritas-regensburg.d/medien/dokumente/broschuere-gewaltsch/ca_brosch_gewaltschutzkonzept_internet.pdf