„Je freier man atmet, desto mehr lebt man.“
(Theodor Fontane)
8. Anordnung, Überwachung und Durchführung
9. Freiheit fördernde und erhaltende Maßnahmen
Einleitung
Durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen jeglicher Art, werden Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit und ihrer Autonomie erheblich eingeschränkt. Im Eduard-Michelis-Haus sehen wir es als unsere Aufgabe, eine klare Haltung in der Mitarbeiterschaft zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zum Wohl und Schutz unserer Bewohnenden herzustellen und zu bewahren:
Jegliche Handlungen wie Bettgitter hochziehen, Anlegen von Bauchgurten, Verwendung von Fixierdecken oder das Wegnehmen von Hilfsmitteln, sedierende Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit, u. a., sind Gewaltanwendungen gegenüber unseren Bewohnenden und deshalb nur in letzter Instanz oder durch den ausdrücklichen Wunsch des Bewohnenden in Erwägung zu ziehen. Wir fördern und fordern eine ressourcenorientierte Sichtweise auf unsere Bewohnenden, sodass wir unseren Fokus auf freiheitsförderende und -erhaltende Maßnahmen legen.
Das vorliegende Konzept soll den Rahmen für unsere Haltung und unser Handeln geben und wurde von in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit mit Einrichtungsleitung, Pflegedienstleitungen, Hauswirtschaftsleitung, Leitung Sozialer Dienst sowie Mitarbeitenden unseres KoorTeams erstellt. In beratender Funktion wurde eine Richterin des Amtsgerichts Gladbeck hinzugezogen.
Haltung
In der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen heißt es im Artikel 1 „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen zu können.“ Artikel 2 hält das Recht auf körperliche, seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit fest.
Das Recht auf Freiheit stellt für uns ein hohes Gut dar. Uns ist bewusst, dass jede FeM ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Menschen ist und sorgfältig unter Einbeziehung der Angehörigen geprüft werden muss. Wir betrachten den Bewohnenden in seiner Individualität, Würde und in Ganzheitlichkeit. Sein (mutmaßlicher) Wille ist für uns handlungsleitend.
Grundsätze
- Wir schützen die Gesundheit und das Leben des Bewohnenden und garantieren seine Freiheitsrechte und Autonomie
- FeM sind immer das letzte Mittel; wir besprechen Alternativen in Fallgesprächen und sind bereit, kreative oder auch orthodoxe Lösungen zu finden
- Der Einsatz von FeM um die Pflege zu erleichtern ist in keinem Fall zulässig
- Alle Details im Zusammenhang mit FeM müssen lückenlos dokumentiert werden
- Uns ist bewusst, dass die Durchführung von Fixierungen erhebliche negative Folgen auf die Psyche und Physe für unsere Bewohnenden darstellen
- Das Amtsgericht ist die einzige Instanz zur Bewilligung von FeM. Wir werden notwendige und genehmigte FeM einschränken oder beenden, wenn sie nicht mehr notwendig sind
- Wir beraten unsere Bewohnenden und Angehörige zu Alternativen jeglicher FeM und halten diese in unserer Einrichtung vor. Wir bauen ihre Ängste ab, indem wir sie über Unruhezustände, Weglauftendenzen, Sturzgefahr, u.a., informieren und sie aktiv in die Ursachenforschung und Entwicklung von Lösungsstrategien einbeziehen
- Wir halten unsere Mitarbeitenden durch (Fach-)Fortbildungen auf den aktuellsten Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse
Ziele
- FeM gilt als letztes Mittel – Unsere Mitarbeitenden kennen Alternativen und setzen freiheitsfördernde und -erhaltende Maßnahmen in erster Instanz um
- Die Würde und körperliche Unversehrtheit unserer Bewohnenden stehen stets im Vordergrund, auch wenn eine FeM erforderlich sein sollte
- Jede in unserem Haus durchgeführte FeM ist zu jedem Zeitpunkt begründet und rechtlich unangreifbar. Unsere Mitarbeitenden sind vor straf- und zivilrechtlicher Verfolgung geschützt.
Rechtliche Grundlagen
Die Anwendung von Freiheit einschränkenden Maßnahmen ist verboten und
verstößt gegen Artikel 2 (2) des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Gemäß § 239 Strafgesetzbuch ist die unrechtmäßige Beschränkung der Bewegungsfreiheit ein Straftatbestand, das mit bis zu fünf Jahren Haft sanktioniert werden kann.
Freiheit einschränkende Maßnahmen dürfen deshalb nur nach Einwilligung des Bewohnenden oder durch eine gesetzliche Betreuung oder des Bevollmächtigten mit vorheriger Prüfung und Genehmigung durch das Betreuungsgericht[1] angewendet werden. Weiter gilt, dass Freiheitsentziehenden Maßnahmen als vorsorgliche Schutzmaßnahmen, ohne das Vorliegen einer konkreten Gefährdung des Bewohnenden unzulässig ist. Alleinige Sorgen, dass etwas passieren könnte, sind nicht ausreichend. Ein Verzicht von freiheitsentziehende Maßnahmen führt nicht zwangsläufig zu einer Erhöhung der Sturz- oder Verletzungsrate der Bewohnenden. Vielmehr können diese Maßnahmen selbst eine nicht zu unterschätzende Verletzungsgefahr für den Bewohnenden darstellen. Ein richterlicher Beschluss von freiheitsentziehende Maßnahmen stellt keine Verpflichtung zur Anwendung dar. Sie ist lediglich eine Genehmigung in bestimmten Situationen und für eine begrenzte Zeit. Die pflegefachliche Einschätzung, inwieweit die Maßnahme notwendig bzw. angemessen ist, ist deshalb unabdingbar.[2]
Eine richterliche Genehmigung ist nicht erforderlich, wenn der Bewohnende laut ärztlichem Attest bewegungsunfähig ist, die Bewegungen nicht willentlich kontrollieren (z.B. Spastiken) oder den Willen zur Fortbewegung nicht mehr bilden kann. Dann sind entsprechende Maßnahmen kein Freiheitsentzug, sondern sollen bei ungesteuerten Bewegungen zum Beispiel vor Stürzen aus dem Bett schützen. Ein ärztliches Attest ist einzuholen.[3]
Einweisung nach PsychKG
Äußerst selten gibt es im Eduard-Michelis-Haus Fälle, in denen eine Einweisung in die geschlossene Psychiatrie erforderlich ist, sollte aber dennoch nicht unerwähnt bleiben:
In akuten Notsituationen, in denen ein Bewohnender unvorhersehbar eine Selbst- oder Fremdgefährdung darstellt und eine sofortige Unterbringung zu seinem und/oder zum Schutz anderer unabdingbar ist, greift das PsychKG und das Ordnungsamt ist einzuschalten.[4] Die Einrichtungsleitung und Pflegedienstleitungen sind unmittelbar zu informieren.
Wunsch des Bewohnenden
Äußert ein einwilligungsfähiger Bewohnende für sein persönliches Sicherheitsbefinden ausdrücklich den Wunsch, beispielsweise das Bettgitter zur Nacht hochzuziehen, ist dieser von der Bezugspflegefachkraft und/oder den Pflegedienstleitungen über mögliche Risiken einer FeM sowie Alternativen aufzuklären. Bleibt der Wunsch bestehen, ist dieser in dem Formular „Einverständniserklärung freiheitsentziehende Maßnahmen“ von ihm mittels Unterschrift festzuhalten. Das Formular ist durch die Bezugspflegefachkraft oder Pflegedienstleitung regelmäßig, spätestens alle 3 Monate mit dem Bewohnenden hinsichtlich seiner aktuellen Position zur gewünschten Maßnahme zu überprüfen. Das Formular ist in Vivendi hinterlegt.
Bei Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit, wird die Maßnahme nicht durchgeführt.
Betroffene können die Einwilligung jederzeit widerrufen. Der Prozess der Beratung bis zur Entscheidung ist von der Bezugspflegefachkraft oder Pflegedienstleitung zu dokumentieren.
Anordnung, Durchführung und Überwachung
Grundsätzlich gilt: Vor jeder FeM sind zunächst Alternativen (Siehe Punkt 7) umzusetzen. Greifen diese nicht und ist eine FeM aus pflegefachlicher sowie therapeutischen Sicht erforderlich, sind die Angehörigen bzw. der Betreuer, Pflegedienstleitungen und die Einrichtungsleitung hinzuzuziehen um das Einleiten einer richterlichen Genehmigung abzustimmen bzw. einzuleiten. In der konkreten Einzelfallentscheidung darf nur das jeweils mildeste Mittel zur Anwendung kommen. Eine FeM kann nur durch einen richterlichen Beschluss erfolgen. Das Gericht verlangt bei der Beantragung ein medizinisches Attest des behandelnden Arztes zur Erforderlichkeit der Maßnahme.
Jede Freiheitsentziehende Maßnahme werden durch die WTG-Behörde überwacht und sind diese über Pfad WTG sowie die zuständige Monitoring- und Beschwerdestelle zu melden[5]. Die Zuständigkeit liegt hier bei der Einrichtungsleitung in Zusammenarbeit mit den Pflegedienstleitungen.
Die Durchführung einer FeM muss so erfolgen, dass der Bewohnenden keinen Schaden nimmt. Nachfolgend werden die FeM dargestellt und die fachliche Durchführung beschrieben:
FeM |
Durchführung |
Nutzung des Bettgitters |
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Nutzung eines Gurtsystems |
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Nutzung eines Bauchgurtes, Rollstuhltisch, Bein- oder Brustgurte |
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Nutzung von Psychopharmaka |
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Verschließen der Türen |
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Dokumentation und Nachbereitung
Jede Bezugspflegefachkraft ist verantwortlich, die FeM spätestens alle 3 Monate auf ihre Notwendigkeit kritisch zu überprüfen. Dies ist unabhängig von der festgelegten Dauer der richterlichen Genehmigung sicherzustellen. Überdies überwachen die Pflegedienstleitungen alle FeM auf ihre Dauer und Notwendigkeit. Sie gehen mit den jeweiligen Bezugspflegefachkräften in den fachlichen Austausch und unterstützen bei einer vorzeitigen Beendigung der Maßnahme.
Jede Maßnahme ist unter der Berücksichtigung folgender Punkte sorgfältig zu führen:
- Welche Maßnahmen werden genau durchgeführt?
- Welche Alternativen wurden erwogen? Warum wurden diese Verworfen?
- Welcher Mitarbeitende hat die Maßnahme durchgeführt?
- Wie groß ist der Bewegungsspielraum für den Bewohnenden?
- Über welchen Zeitraum wird die Maßnahme durchgeführt?
- Welche Reaktionen zeigt der Bewohnende auf die Maßnahme?
- Wie wurde der Bewohnende während der Maßnahme begleitet?
- Eine Verlaufsbeschreibung (können Maßnahmen reduziert werden)?
Freiheit fördernde und erhaltende Maßnahmen
Jede FeM kann zu zahlreichen Komplikationen wie Dekubitus, Thrombose, seelische Erkrankungen oder Pneumonie führen. Die aktive Förderung der Bewegung und Teilhabe haben deshalb oberste Priorität. Das Treffen und Durchführen von fördernden und erhaltenden Maßnahmen erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft.[8]
Risiko |
Fördernde und erhaltende Maßnahmen |
Hohe Sturzgefahr |
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Gesundheitsgefahr |
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Herausforderndes Verhalten |
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Gesetze:
Bürgerliches Gesetzbuch, BGB
§1831Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
Charta der Rechte Hilfe- und Pflegebedürftiger Menschen
Artikel 1 Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe
Artikel 2 Körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit
Grundgesetz
Artikel 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar
Artikel 2 (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden
PsychKG - Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten
§14 Sofortige Unterbringung
Strafgesetzbuch, StGB
§239 Freiheitsberaubung
Wohn- und Teilhabegesetz, WTG
§8a Vermeidung, Durchführung und Dokumentation von freiheitsentziehenden Unterbringungen und freiheitsbeschränkenden und freiheitsentziehenden Maßnahmen
Weitere:
Landeshauptstadt München, Beschwerdestelle für Probleme in der Altenpflege Betreuungsstelle des Sozialreferats Amt für soziale Sicherung, Hilfen im Alter und bei Behinderung (Hrsg.): Link / PDF
Landeshauptstadt München, Kreisverwaltungsreferat: Link / PDF
ZQP (Zentrum für Qualität in der Pflege): Link
[1] Vgl. BGB, §1831Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
[2]Vgl. https://stadt.muenchen.de/dam/jcr:9c3e8799-9b38-4e74-8eed-443de63885e7/Handout%20Beratungsangebot%20FeM.pdf
[3] Vgl. https://www.zqp.de/thema/freiheitsentziehende-massnahmen/
[4] Vgl. PsychKG § 14, Sofortige Unterbringung
[5] Vgl. WTG §8a (7)
[8] Vgl. https://stadt.muenchen.de/dam/jcr:922837c4-55ab-4a56-a2f3-0ce71e10daec/empfehlung%20freiheitsentzug%202011.pdf